Die Welt braucht mehr Essays und weniger Eskapaden. Wenn mir früher im Leben klar geworden wäre, dass geistiges Mäandern in schriftlicher Form ein anerkanntes und seriöses Format ist, ich hätte schon in jungen Jahren geübt, es in diese Form zu gießen.
So aber gehe ich zeitlebens meinem Freundeskreis mit unfertigen Gedanken auf die Nerven, die in meinen Augen elementar sind und deren Veräußerung zum wichtigen Prozess des Weiterdenkens, -kommens, -reflektierens gehört. Mir ist dann kein konkretes Ergebnis wichtig, die Gedanken müssen nur einfach an die frische Luft. Das kann langatmig und lästig sein, verwirrend auch und wirkt sicher oft sehr überflüssig, aber lieber heiße Luft (und warme Worte?) als kalte Gedanken. Oder so.
Und nun endlich die Offenbarung! Dank meines Bruders, der mir das Buch über Michel de Montaigne von Sarah Bakewell für meine Sommerferien überreichte, ist mir endlich bewusst, dass diese literarische Gattung das Zuhause meines Bedürfnis nach gedanklichem Herumspazieren ist (Wikipedia: Der Essay als literarische Form oder Gattung geht zurück auf den französischen Autor Michel de Montaigne 1533–1592).
Ich hatte Essay immer als „Aufsatz“ übersetzt, pah, weit gefehlt (sicher irgendwann im Deutschunterricht gehört und sofort wieder vergessen):
Der bzw. das[1] Essay (Plural: Essays), auch Essai genannt, ist eine geistreiche Abhandlung, in der wissenschaftliche, kulturelle oder gesellschaftliche Phänomene betrachtet werden. Im Mittelpunkt steht oft die persönliche Auseinandersetzung des Autors mit einem Thema. Die Kriterien wissenschaftlicher Methodik können dabei vernachlässigt werden; der Schreiber (der Essayist) hat also relativ große Freiheiten (yeah, danke Wikipedia).
Na das ist ja wie für mich geschaffen.
Etwa zeitgleich begeistere ich mich für die Newsletter von Annett Gröschner, die als „Geschichtsmaschinistin“ etwa 1 Jahr lang für den Newsletter der Volksbühne Berlin etwas sehr ähnliches gemacht hat (es heißt hier Kolumne ), sie geht spazieren, lässt dabei Gedanken und Augen schweifen, kommentiert, was sie sieht, kommt damit aber nicht zwingend zu dem einen Schluss. Sie reiht vielmehr Gedanken an Gedanke, lässt sich ablenken, umlenken und zieht dabei Kreise, aber nicht zwingend Schlüsse.
I LOVE IT! Weil damit raus kann, was im Kopf schwirrt, weil es – wenn es möchte – bei anderen Menschen auf Resonanz treffen kann, weil es aber eben nicht ein Handlungsaufruf zu etwas ist, man kein Projekt draus machen muss, nichts und niemanden retten, kein Call to Action, sondern einfach nur Raum für Gedachtes gibt. Und kein Mensch muss es lesen, aber mir ging es beim Spazieren mit Annett wie beim Mäandern mit Montaigne – wie schön, an Überlegungen teilzuhaben, an Gedankenprozessen, an Fragestellungen, die ich teils selbst auch hatte, mit der erleichternden Erfahrung, dass hier nichts zu Ende gedacht sein muss, kein Problem gelöst werden muss, sondern einfach nur etwas ans Licht darf.
Ich kann also garantieren, dass es auf diesem Blog noch den ein oder anderen unfertigen Gedanken geben wird – durchaus lang und breit ausgewalzt. Ich werde es Essay nennen.
Und hier als Nachsatz, weil ich sie nirgends als Sammelarchiv gefunden habe – die Newletter der Geschichtsmaschinistin-Reihe, die ich aufstöbern konnte:
Geschichtsmaschinistin #1: Vom Überschriebenwerden / von Annett Gröschner
Geschichtsmaschinistin #2: Grüße aus der neuen Nachbarschaft / von Ruth Feindel
Geschichtsmaschinistin #3: Ein Sumpf zieht an der Endmoräne hin/ von Annett Gröschner
Geschichtsmaschinistin #4: Das soll Avantgarde sein?! / von Anna Fastabend
Geschichtsmaschinistin #5: Andrej Platonow – der Meliorator und Lokomotivführer der Geschichte / von Annett Gröschner
Geschichtsmaschinistin #6: Welt anhalten / von Peggy Mädler
Geschichtsmaschinistin #7: Überschriebene (Frauen-)Geschichte / von Annett Gröschner
Geschichtsmaschinistin #8: Ein Kind der Revolution / von Katrin Gottschalk
Geschichtsmaschinistin #9: Ronald M. Schernikaus LEGENDE / von Annett Gröschner
Geschichtsmaschinistin #10: Vom Ich zum Haus / von Luise Meier
Geschichtsmaschinistin #11: Nazis in Neukölln und anderswo / von Annett Gröschner
Geschichtsmaschinistin #12: Ich will meine Theaterstücke nicht mit Hashtags versehen / von Sarah Kilter
Geschichtsmaschinistin #13: Troll dich / von Annett Gröschner
Geschichtsmaschinistin #14: VERKACKT / von Laura Naumann und Marielle Schavan, Theaterkollektiv Henrike Iglesias
Geschichtsmaschinistin #15: Schlendern verboten / von Annett Gröschner
Geschichtsmaschinistin #16: Osterspaziergang mit Virus an der Leine / von Annett Gröschner
Geschichtsmaschinistin #17: Simon und Simone / von Ruth Herzberg
Geschichtsmaschinistin #18
…
Geschichtsmaschinistin #24